Charles Le Gai Eaton, ehemaliger britischer Diplomat (teil 3 von 6)
Beschreibung: Die Suche nach der Wahrheit eines Philosophen und Schriftstellers im Angesicht eines ständigen inneren Kampfes um die Harmonisierung von Glaube und Tat. Teil 3: Weisheit des Verstandes, welche die menschliche Substanz nicht durchdringt und die Entdeckung Gottes.
- von Gai Eaton
- Veröffentlicht am 22 Feb 2010
- Zuletzt verändert am 20 Oct 2010
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Von Charterhouse ging ich nach Cambridge, wo ich meine Pflichtstudien vernachlässigte, die mir trivial und langweilig zu sein schienen, zugunsten der einzigen Studie, auf die es ankam. Es war im Jahr 1939. Der Krieg war ausgebrochen, gerade bevor zur Universität ging; zwei Jahre noch, dann würde ich zur Armee kommen. Es schien sehr wahrscheinlich, dass es den Deutschen gelingen wurde, mich zu töten, wie ich es immer von ihnen gedacht hatte. Mir blieb nur ein wenig Zeit, in der ich die Antworten auf die Fragen, die immer noch Besitz von mir ergriffen hatten, finden konnte, aber dies brachte mich keiner der organisierten Religionen ein Stückhen näher. Wie die meisten meiner Freunde schätzte ich die Kirche gering und auch all jene, die mit den Lippen einem Gott anbeteten, den sie nicht kannten; aber ich war bald gezwungen, diese Feindlichkeit zu dämpfen. Ich erinnere mich nach über einem halben Jahrhundert noch deutlich an diese Szene. Einige von uns hingen nach dem Abendessen in der Halle des Kings Colleges Kaffee trinkend herum. Das Gespräch wechselte zur Religion. Am Kopfende des Tisches saß ein Student der ersten Semester, der allgemein wegen seiner Intelligenz, seinem Witz und seiner Weltklugheit bewundert wurde. In der Hoffnung, ihn zu beeindrucken, nutzte ich den Vorteil einer kurzen Stille und sagte: „Kein intelligenter Mensche glaubt heutzutage an den Gott der Religion!“ Er blickte mich ziemlich bedauernd an, bevor er antwortete: „Ganz im Gegenteil, heutzutage sind die intelligenten Menschen die einzigen, die an Gott glauben.” Ich wäre am liebsten außer Sicht unter den Tisch versunken.
Ich hatte allerdings einen weisen Freund, einen Mann, vierzig Jahre alt, meinen Senior, den ich absolut überzeugend fand. Es war der Schriftsteller L. H. Myers, in jener Zeit als “der einzige philosophische Novelist, den England hervorgebracht hat“. Sein Hauptwerk “Die Wurzel und die Blume” (‘The Root and the Flower’) beantwortete nicht nur viele dieser Fragen, die an mir nagten, sondern sie übermittelten mir einen hervorragenden Sinn für Gelassenheit verbunden mit Mitgefühl. Es schien mir, dass Gelassenheit der größte Schatz sei, den man in diesem Leben besitzen könnte und dass Mitgefühl die größte Tugend sei. Hier war sicherlich ein Mann, den kein Sturm erschütterte, und der den Tumult der menschlichen Existenz mit dem Auge der Weisheit überstand. Ich schrieb ihm, und er antwortete prompt. Die nächsten drei Jahre schrieben wir einander mindestens zweimal im Monat. Ich schüttete ihm mein Herz aus, während er, in der Überzeugung, in diesem jungen Verehrer jemanden gefunden zu haben, der ihn tatsächlich verstand, antwortete auf die gleiche Art. Zufällig trafen wir uns und dies untermauerte unsere Freundschaft.
Also, nichts war so, wie es erschien. Ich fing an, in seinen Briefen eine Note innerer Qualen, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit zu entdecken. Als ich ihn fragte, ob er alle Gelassenheit in seine Bücher packte und nichts für sich selbst übrig ließ, antwortete er: „Ich denke, dein Kommentar war scharfsinnig und vielleicht wahr.“ Er hatte sein gesamtes Leben dem Trachten nach Vergnügungen und dem Streben nach ´Erfahrungen´ gewidmet (sowohl edel als auch schmutzig, wie er sagte). Wenige Frauen, aus der High Society oder einfache, waren in der Lage gewesen, seiner erstaunlichen Kombination aus Reichtum, Charme und gutem Aussehen zu widerstehen; er, seinerseits, hatte keinen Grund, ihren Verführungen zu widerstehen. Von Spiritualität und Mystizismus fasziniert, gehörte er keiner Religion an und gehorchte keinen konventionellen Moralgesetzen. Jetzt fühlte er, dass er langsam alt wurde, und er konnte die Aussicht nicht ertragen. Er hatte versucht, sich zu ändern und sogar seine Vergangenheit zu bereuen, aber es war zu spät. Wenig mehr als drei Jahre nachdem unsere Korrespondenz begonnen hatte, beging er Selbstmord.
Meine Zuneigung zu ihm hielt an und im gegebenen Moment nannte ich meinen ältesten Sohn nach ihm; aber Leo Myers Tod lehrte mich mehr, als ich von seinen Büchern lernen konnte, obgleich es einige Jahre dauerte, bis ich seine vollständige Bedeutung verstand. Seine Weisheit hat nur in seinem Kopf bestanden. Sie ist in seine menschliche Substanz nie eingedrungen. Ein Mann kann sein gesamtes Leben damit verbringen, spirituelle Bücher zu lesen und die Schriften großer Mystiker zu studieren. Er konnte fühlen, er sei in die Geheimnisse der Himmel und der Erde eingeweiht, aber solange dieses Wissen sich nicht auf sein Wesen auswirkt und ihn verändert, war es unfruchtbar. Ich fing an, zu vermuten, dass ein kleiner, gläubiger Mann, der mit wenig Verständnis aber aus ganzem Herzen zu Gott betet, wertvoller sein könnte, als der gelehrteste Student der Geisteswissenschaften.
Myers war grundsätzlich von einer Studie von Hindu Vedanta, der metaphysischen Doktrin im Kern des Hinduismus, beeinflusst gewesen. Das Interesse meiner Mutter an Raja Yoga hatte mich bereits in diese Richtung gewiesen. Vedanta galt jetzt mein Hauptinteresse und letztendlich führte mich dieser Weg zum Islam. Dies wird auf die meisten Muslime schockierend wirken und jedermann in Erstaunen versetzen, der sich bewusst ist, dass die absolute Grundlage des Islam jeglichen Götzendienst kompromisslos verdammt, und doch ist mein Fall nicht der einzige. Was auch immer die hinduistischen Massen glauben mögen, Verdanta ist eine Doktrin der reinen Einheit, der einzigartigen Wirklichkeit und steht daher für das, was der Islam als Tauhid bezeichnet. Muslime sollten weniger Schwierigkeiten als andere damit haben, dass eine Doktrin der Einheit das Fundament in allen Religionen bildet, welche die Menschheit von Anfang an genährt haben, egal welchen götzendienerischen Illusionen ´den Juwel des Lotus´ überdeckt haben, genau wie der individuelle Götzendienst den Kern des Herzens überdeckt. Wie könnte es sonst sein, da Tauhid die Wahrheit ist, und mit den Worten eines großen christlichen Mystikers, ´die Wahrheit ist dem Menschen angeboren´?
Viel zu schnell endete meine Zeit in Cambridge, und ich wurde an das Royal Military College, Sandhurst, geschickt, das ich nach fünf Monaten als junger Offizier verließ, angeblich bereit, zu töten oder getötet zu werden. Um mehr über die Kunst des Krieges zu lernen, wurde ich dann zu einem ´Zusatz´ wie sie es nannten, zu einem Regiment im Norden Schottlands geschickt. Hier war ich mir selbst überlassen und verbrachte meine Zeit entweder mit Lesen oder Spaziergängen auf den gigantischen Granitklippen oberhalb der tosenden Nordsee. Es war ein sehr stürmischer Ort, aber ich fühlte einen Frieden wie nie zuvor. Je mehr ich von Verdanta las und auch von der alten chinesischen Doktrin des Taoismus, desto sicherer wurde ich, dass ich zumindest ein wenig Verständnis von den Naturdingen besaß und die ultimative Wirklichkeit, neben der alles andere nur wenig mehr als ein Traum war, wenn auch nur in Gedanken und Vorstellungen flüchtig betrachtet hatte. Bis jetzt war ich nicht darauf vorbereitet, diese Wirklichkeit ´Gott´, geschweige denn Allah zu nennen.
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