Vergebung vs. Vergeltung (Teil 1 von 2): Vergeben oder nicht Vergeben; das ist die Frage
Beschreibung: Eine kurze Erklärung des Gesetzes, das als Qisas bekannt ist und seine Verbindung zur Vergebung.
- von Aisha Stacey (© 2016 IslamReligion.com)
- Veröffentlicht am 07 Nov 2016
- Zuletzt verändert am 10 Jan 2022
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Der Islam ist eine Religion, die der Natur des Menschen Rechnung trägt; schließlich kennt uns Der, Der uns geschaffen hat, am besten. Wir sind nicht vollkommen geschaffen worden, wir machen Fehler, wir vergessen, wir sündigen, wir fallen unseren Gefühlen und Hormonen zum Opfer und unser Gerechtigkeitssinn könnte nicht so fein abgestimmt sein, wie wir ihn uns wünschen oder denken. Daher hat die Doktrin des Islam, deren beiden Hauptquellen der Rechtswissenschaft, der Qur´an und die Sunna (manchmal auch als authentische Überlieferungen des Propheten Muhammad bezeichnet), sind, Richtlinien für uns aufgestellt, nach denen das Gesetz angewandt wird. Anders als in modernen, sekularen Gesellschaften gibt es keine Trennung zwischen Religion uns Staat. Damit die islamische Gesellschaft funktioniert, müssen die Gesetze Gottes angewandt werden.
Der Islam wiederholt das Prinzip der Thora oder des Alten Testaments Auge-um-Auge und wendet sowohl Kapital- als auch körperliche Strafen für viele Verbrechen an. Was allerdings häufig übersehen wird, ist, dass der Qur´an und die Überlieferungen des Propheten Muhammad nach Vergebung rufen anstatt nach Vergeltung. Der Islam und seine gesetzlichen Prinzipien unterstützen Vergebung und friedliche Arrangements zwischen allen Parteien. Die zweite von drei Kategorien von Verbrechen nach dem islamischen Gesetz ist Qisas. Im Islam bedeutet Qisas das Gesetz der Vergeltung, allerdings wird es von der Wurzel qess abgeleitet, was bedeutet, die Wirkung oder Spur von etwas aufzuspüren, manchmal wird es definiert als die Fußspuren eines Feindes aufspüren.
"… Und wenn ihr bestraft, dann bestraft in dem Maße, wie euch Unrecht zugefügt wurde; wollt ihr es aber geduldig ertragen, dann ist das wahrlich das Beste für die Geduldigen." (Quran 16:126)
"Wir hatten ihnen darin vorgeschrieben: Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr und Zahn um Zahn; und für Verwundungen gerechte Vergeltung. Wer aber darauf verzichtet, dem soll das eine Sühne sein; und wer nicht nach dem richtet, was Gott hinabgesandt hat das sind die Ungerechten." (Quran 5:45)
Qisas ist speziell für Mord oder schweren Angriff. Wann immer eine Person einer anderen körperlichen Schaden oder den Tod zufügt, hat der Verletzte oder ein Angehöriger des Verstorbenen das Recht auf Vergeltung. Bei Verbrechen unter den Gesetzen des Qisas hat das Opfer oder sein Repräsentant drei Möglichkeiten: auf der Bestrafung beruhen, einen geldlichen Ausgleich zu akzeptieren oder dem Angreifer zu verzeihen. Verzeihung kann sogar die Todesstrafe abwenden.[1] Der Qur´an drängt auf Vergebung und Gnade, selbst unter den schlimmsten Umständen.
"In der Wiedervergeltung ist Leben für euch, o ihr, die ihr einsichtig seid! Vielleicht werdet ihr Gott fürchten." (Quran 2:179)
Wie oben erwähnt, bezieht sich das Gesetz der Wiedervergeltung oder Qisas auf bestimmte Verbrechen, die entsprechend den Gesetzen erlaubter Weise auf dieselbe Art und Weise und genauso stark bestraft werden. Im Fall von schwerem Angriff beispielweise hat das Opfer das Recht, ein Auge für ein Auge zu wählen, ein Ohr für ein Ohr oder ein Bein für ein Bein. Qisas gestattet dem Opfer oder seinem Angehörigen auch, einen anderen Ausgang zu wählen. Er könnte eine Entschädigung, auch als Blutgeld oder arabisch Diya bekannt, akzeptieren. Die Zahlung der Diya wird anhand einer Skala berechnet, die dem Grad der verursachten Behinderung oder der Verletzung entspricht. Allerdings kann das Opfer oder sein Angehöriger auch die Verzeihung wählen und trotz der Rechtmäßigkeit aller drei Auswahlmöglichkeiten, macht der Qur´an deutlich, dass es das beste ist, zu verzeihen. Im Islam ist die Versöhnung immer der Vergeltung vorzuziehen.
"… der vergibt und Besserung bewirkt, ruht sicher bei Gott." (Quran 42: 40)
Ein bekannter Psychologe hat einmal gesagt, dass das Leben ohne Vergebung von einem endlosen Groll und Vergeltung regiert würde. Egal, welche der drei Ausgänge das Opfer wählt, das Ziel ist, den Zyklus von Vergeltung und Rache zu durchbrechen, und um die Auswirkungen des Verbrechens nicht anhalten und die islamische Gesellschaft schädigen zu lassen. Mit anderen Worten Qisas schränkt die Konsequenzen ein. Der Bedürfnis des Opfers nach Gerechtigkeit wird befriedigt, während unnötiger Schaden für den Täter vermieden wird.
Die Kombination aus Diya und Vergebung schafft ein kräftiges Material und spirituellen Anreiz auf Vergeltung zu verzichten. Wenn das Opfer berechtigt ist auszuwählen, wählt es in vielen Fällen die Vergebung, denn die Belohnung Gottes ist erstrebenswerter als irgendein irdischer Vorteil oder das flüchtige Vergnügen, irdische Strafe zuzulassen.
Der Prophet Muhammad wählte immer die Vergebung vor der Vergeltung. Sein Verhalten ist das beste Vorbild für Vergebung und Mitgefühl. Die Verbrechen an ihm waren oft gemein und erniedrigend, doch er nahm die Worte Gottes wörtlich und wählte die Freundlichkeit und nicht den Ärger. Er hatte die Kraft und die Mittel, um zu vergelten, doch je härter die Verbrechen gegen ihn wurden, desto milder wurde er.
"...übe Nachsicht (o Muhammad), gebiete das Rechte und wende dich von den Unwissenden ab." (Quran 7:199)
In diesem Artikel haben wir das Gesetz Qisas untersucht und entdeckt, dass Vergebung die beste Tat ist. Nichtsdestotrotz kennt Gott den menschlichen Bedarf an Gerechtigkeit in dieser Welt, und daher hat Er uns mit einer Methode der Vergeltung ausgestattet, die fair und gerecht ist. Im gesamten Qur´an und in den Überlieferungen des Propheten Muhammad wird uns mitgeteilt, dass Vergebung besser ist und im nächsten Artikel werden wir entdecken, warum das so ist. Wünschst du dir nicht, dass Gott dir vergibt?
"Sie sollen (vielmehr) vergeben und verzeihen. Wünscht ihr nicht, daß Gott euch vergebe? Und Gott ist Allvergebend, Barmherzig." (Quran 24:22)
"Und wahrlich, wer geduldig ist und vergibt - das ist gewiß eine Tugend der Entschlossenheit in allen Dingen." (Quran 42:43)
Fußnoten:
[1] Punishment in Islam: An Eye For An Eye?" Al-Haramain Online Newsletter, Volume 4, Issue 8, July 2000.
Vergebung vs. Vergeltung (teil 2 von 2): den Groll überwinden und vergeben
Beschreibung: Warum Vergebung einfach besser als Vergeltung sein könnte.
- von Aisha Stacey (© 2016 IslamReligion.com)
- Veröffentlicht am 14 Nov 2016
- Zuletzt verändert am 14 Nov 2016
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Wie im 1. Teil erklärt, versteht Gott das komplizierte Wesen des Menschen. Manche Menschen würden ohne irgendeine Rückzahlung oder Vergeltung gegenüber denen, die ihnen Unrecht getan haben, nicht zufrieden sein, und das mit Recht. Die Religion des Islam teilt uns verschiedene Dinge mit, die eine Überlegung Wert sind, bevor Vergeltung geübt wird.
Der erste und möglicherweise wichtigste Grund lieber zu vergeben als Vergeltung zu üben, ist, dass der Qur´an und die Überlieferungen des Propheten Muhammad und ermutigen, dies zu tun. Vergebung bedeutet, auf sein Recht auf Vergeltung, das dir gegenüber jemandem zusteht, der dir Unrecht zugefügt hat, zu verzichten. Gott bietet denjenigen, die vergeben, unzählige Belohnungen. Es gehört tatsächlich zu den guten Sitten und dem edlen Charaktereigenschaften, nach denen alle Gläubigen streben sollten. Selbst unter den Qualen der Verzweiflung sind diese Belohnungen außerordentlich wertvoll und wenn jemand Geduld üben kann, bevor er Vergeltung übt, wird er herausfinden, dass Vergeben wirklich besser ist.
"…den Groll unterdrücken und den Menschen vergeben. Und Gott liebt die Rechtschaffenen." (Quran 3:134)
Der Prophet Muhammad sagte: "Am Tag des Gerichts wird ein Rufer sagen: ´Wer von euch sind die Leute der Güte?’ Da werden einige Leute aufstehen. Zu ihnen wird gesagt werden: ‘Tretet ins Paradies ein’. Die Engel werden ihnen begegnen und sie fragen: ‘Wohin?’ Sie antworten: ‘Zum Paradies’. Die Engel sagen: ‘Bevor ihr gerichtet werdet?’ Sie antworten: ‘Ja’. Die Engel fragen: ‘Wer seid ihr?’ Sie antworten: ‘Wir sind Leute der Güte’. Die Engel fragen: ‘Und was war eure Güte?’ Sie antworten: ‘Wir pflegten mild zu sein, wenn wir unterdrückt wurden, und geduldig, wenn wir angegriffen wurden, und vergebend, wenn wir beleidigt wurden.’ Dann sagen die Engel: ‘Tretet im Paradies ein, welch´ eine exzellente Belohnung für die (frommen, guten) Arbeiter’."[1]
Gott ermahnt uns immer wieder, nachzudenken, geduldig zu sein, unseren Groll zu überwinden und zu vergeben. Einer der Gefährten des Prophete Muhammads, sagte einmal, dass er während jedes Disputs bezüglich der Vergeltung den Propheten niemals etwas anderes befehlen sah als die Erlassung. Wenn jemand ungerecht zu uns ist oder uns etwas Schlechts tut, werden wir ermutigt, mit milden und gütigen Taten zu antworten, damit der Hass unter uns verschwindet.
"Und nimmer sind das Gute und das Böse gleich. Wehre (das Böse) in bester Art ab, und siehe da, der, zwischen dem und dir Feindschaft herrschte, wird wie ein treuer Freund sein." (Quran 41:34)
"Und wenn ihr bestraft, dann bestraft in dem Maße, wie euch Unrecht zugefügt wurde; wollt ihr es aber geduldig ertragen, dann ist das wahrlich das Beste für die Geduldigen." (Quran 16:126)
Der Islam gestattet die Vergeltung als Mittel, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen, den Groll zu beruhigen, emotionales Leiden zu erleichtern, um eine Unterdrückung des Verbrechers zu verhindern und übermäßiger Gewalt ein Ende zu setzen. Gleichzeitig ermutigt er den unrechtmäßig Behandelten, zu vergeben und dem, der ihm geschadet hat, zu verzeihen. Nachdem wir dies gesagt haben, lohnt es sich, uns daran erinnern, wenn man versucht, zwischen der zulässigen Vergeltung und der Vergebung zu entscheiden, dass Gott Selbst der Gerechteste ist.
"Und Wir werden Waagen der Gerechtigkeit für den Tag der Auferstehung aufstellen, so daß keine Seele in irgendeiner Weise Unrecht erleiden wird. Und wäre es das Gewicht eines Senfkorns, würden Wir es hervorbringen. Und Wir genügen als Rechner." (Quran 21:47)
Ein weiterer guter Grund über Vergebung nachzudenken, bevor man sich für Vergeltung oder Entrüstung entscheidet, ist, dass es eine direkte Verbindung zwischen der Art gibt, wie wir andere behandeln und der Art und Weise, wie Gott uns behandelt. Der Prophet Muhammad pflegte, folgende Parabel zu verwenden, um dies zu verdeutlichen. "Es gab einen Händler, der den Menschen ihre Kredite auszudehnen pflegte. Fand er einen seiner Kunden mit knappen Mitteln vor, sagte er zu seinen Assistenten: ‘Streicht seine Schuld, vielleicht wird Gott uns vergeben.’ Gott hat ihm vergeben."[2]
Gott beschreibt die Gläubigen:
"…und (für jene, die) die schwersten Sünden und Schändlichkeiten meiden und, wenn sie zornig sind, vergeben " (Quran 42:37)
Die Unfähigkeit zu vergeben kann uns tief beeinflussen, emotional, spirituell und sogar körperlich. Sie verursacht Stress und Krankheiten. Wenn du jemandem vergibst, gibst du nicht nur dein Recht auf Vergeltung auf, sondern du gibst auch deine Rachegefühle und deinen Groll auf. Moderne Forschung spezifisch über die gesundheitlichen Vorteile der Vergebung zeigen, dass Menschen, die diese mentale Verschiebung zwischen Vergeltung und Vergebung machen können, vielerlei Nutzen davon haben, mit denen sie nicht rechnen[3]. Eine Studie behauptet sogar, dass Menschen, die vergeben, länger leben.[4]
Vergeben und vergessen ist eine Aussage, die man häufig hört, und während es bei einigen Verletzungen, die gegen uns begangen wurden, fast unmöglich zu sein scheint, ist Vergeben dennoch gleichbedeutend mit dem Vertrauen auf Gott Allein. Gott wird die Last von unserem Geist und unseren Herzen nehmen. Das Zurückhalten von Vergebung basiert häufig auf einem unsicheren Versuch, uns zu schützen und in unserem kleinen Einflussbereich die Kontrolle zu behalten. Ein Gläubiger weiß allerdings, dass dies nur eine Illusion von Sicherheit und Kontrolle ist. Gott ist es, Der uns beschützt und Er ist der Eine mit der Macht, alle Dinge und Ereignisse zu kontrollieren. Von einem Blatt, das von einem Baum herab fällt, bis hin zur Zeit unseres Todes.
"Bei Ihm befinden sich die Schlüssel zum Verborgenen; nur Er kennt sie. Und Er weiß, was auf dem Lande ist und was im Meer. Und nicht ein Blatt fällt nieder, ohne daß Er es weiß…" (Quran 6:59)
Vielleicht das erstaunlichste Beispiel, dass Vergebung besser ist als Vergeltung, gaschah als der Prophet Muhammad die Stadt Mekka eroberte. Seine Anhänger und er hatten die Stadt verlassen, nachdem sie missbraucht, gefoltert und aus ihren Häusern vertrieben worden waren, gehungert hatten, gedemütigt, ermordet und verstümmelt worden waren. Als er bescheiden auf einem Esel in Mekka einritt, hätte der Prophet Muhammad die Macht gehabt, jede Rache, die er wollte, zu nehmen. Er hätte auf jede Weise, die angebracht war, Vergeltung üben können, und dennoch entschied er sich für Vergebung. Er sprach zu den Menschen in Mekka dieselben Worte, die der Prophet Jusuf zu seinen Brüdern gesagt hatte:
"Er sprach: "Kein Tadel treffe euch heute. Möge Gott euch vergeben! Denn Er ist der Barmherzigste Erbarmer." (Quran 12:92)
Fußnoten:
[1] Al-Baihaqi
[2] Sahieh Al-Bukhari, Sahieh Muslim
[3] http://www.psychologytoday.com/blog/fulfillment-any-age/201301/live-longer-practicing-forgiveness
[4] Toussaint, L. L., Owen, A. D., & Cheadle, A. (2012). Forgive to live: Forgiveness, health, and longevity. Journal Of Behavioral Medicine, 35(4), 375-386. doi:10.1007/s10865-011-9362-4
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